Arsenic and no Lace
Greg de Cuir Jr.
2021
Greg de Cuir Jr. ist ein unabhängiger Kurator, Filmwissenschaftler, Autor und langjähriger Wegbegleiter Eversons. Für die Ausstellung Recover hat de Cuir Jr. einen Text mit dem Titel Arsenic and no Lace verfasst, der seine erste Begegnung mit Kevin Jerome Everson beschreibt und Einblick in Eversons Meisterwerk Sugarcoated Arsenic (2014) gibt.
Greg de Cuir Jr. (*Los Angeles, lebt in Belgrad) arbeitet als unabhängiger Kurator, Schriftsteller und Übersetzer. Er organisiert die Filmreihe Avant-Noir, die zeitgenössische Film- und Videoarbeiten von Künstler_innen präsentiert, die sich mit der visuellen Darstellungen von schwarzer Kultur in ihren verschiedenen komplexen Formen befassen. Seine cineastischen Programme wurden in Institutionen und auf verschiedenen Festivals gezeigt, wie u. a. der National Gallery of Art, Washington DC; ICA, London; National Museum of African American History and Culture, Washington DC; Palais des Beaux-Arts, Brüssel; Los Angeles Filmforum; Locarno Film Festival; Flaherty Film Seminar, New York; Kurzfilmtage Oberhausen; Museum of Modern Art, Warschau; Museum of Contemporary Art Vojvodina, Novi Sad; Alternative Film Video, Belgrad. Seine Texte wurden u. a. in Cineaste, Millennium Film Journal und Jump Cut veröffentlicht.
Arsenic and no Lace
Greg de Cuir Jr.
Ich erinnere mich noch gut an meine erste Begegnung mit Kevin Jerome Everson. Der Anlass waren die Kurzfilmtage Oberhausen im Jahr 2014, als sein Meisterwerk Sugarcoated Arsenic (in Zusammenarbeit mit Claudrena Harold) im internationalen Wettbewerbsprogramm gezeigt wurde. Eversons Ruf als jemand, der einen wichtigen Beitrag zur zeitgenössischen nordamerikanischen Filmkunst leistet, hatte sich schon einige Jahre zuvor herumgesprochen. In verschiedenen Kritiken zu Filmfestivals und Ausstellungen wurde sein Werk oft in den höchsten Tönen gelobt, und ich prägte mir seinen Namen als einen der wenigen Künstler ein, die Schwarzen Menschen und Kulturen im Avantgarde-Film Priorität verleihen.
Sugarcoated Arsenic ist ein Beitrag zur fortlaufenden Filmreihe Black Fire, die von Everson und Harold gemeinsam geschaffen wurde. Sie besteht aus Beschwörungen des afroamerikanischen Lebens im Laufe der Jahrzehnte an der University of Virginia, wo beide Künstler_innen als Professor_inenn tätig sind, Everson am Kunstinstitut und Harold am Institut für Geschichte. Der Film ist eine Art Gambit, der viel über Eversons kreative Methode und seine Herangehensweise an die Form verdeutlicht. Das Ziel der beiden Regisseur_innen war es, das Vermächtnis von Vivian Gordon zu beleuchten, die in den 1970er Jahren an der Universität lehrte und als scharfe und hartnäckige Kritikerin der weißen Vorherrschaft bekannt war. Harold hatte im Universitätsarchiv einige Tonaufnahmen von Gordons Vorträgen und Vorlesungen gefunden und war fasziniert von der Idee, ihre Geschichte zum Leben zu erwecken. Everson stellte sich vor, dass es im Archiv auch 16-mm-Filmmaterial von Gordon geben musste, aber es waren keine Bewegtbilddokumente zu finden. Um diesen Mangel an Archivmaterial zu kompensieren, beschloss Everson, 16-mm-Filme im Stil der damaligen Zeit zu drehen, wobei er den Details der Kostüme und des Dekors große Aufmerksamkeit schenkte, als ob es sich bei ihrem Film um eine Zusammenstellung von „gefundenem Filmmaterial“ handelte. Es war die sprichwörtliche Lüge, die die Wahrheit enthüllte. Auch war dies Teil von Eversons konsequenter Ablehnung des Etiketts „Dokumentarfilm“ und all der ethischen und ästhetischen Fallen, die dieser Begriff mit sich bringt. Der Film ist eines der ausgefeiltesten Beispiele für Eversons Herangehensweise an das Handwerk des Filmemachens, bei dem er häufig Requisiten und andere szenografische Objekte herstellt, um sie in seine Filme einzufügen – nicht nur als Verweigerung des Dokumentarischen, nicht nur als eine Möglichkeit, seine bildhauerische und plastische Kunstpraxis mit dem Bereich des Kinos zu verschmelzen, sondern auch als eine Art nahtloses selbstreflexives Zeichen seiner Autorenschaft.
Aber all das wusste ich nicht, als ich im Festivalkino saß und mir Sugarcoated Arsenic ansah, verwirrt über die wahre Natur seiner formalen Qualitäten. War das, was ich sah, ein Stück aus dem Archiv? Eine fertige Geste, die ein verloren gegangenes Werk zurückfordert? Die Wirkung des Films war makellos, denn er wechselte zwischen Ausschnitten aus Gordons Vorlesungen und Einblicken in das Alltagsleben schwarzer Student_innen an der Universität – aber eine nahtlose Ästhetik war weder der Sinn noch das Ziel. Dies war ein sehr „unheimlicher“ Film in seiner stilistischen Verführung, aber auch in seiner Darstellung historischer Werte. Ich wurde als Zuschauer in einer instabilen Position auf meinem Platz zurückgelassen, und diese Erschütterung kann als zentral für die politische Strategie des Films angesehen werden. Auch wenn ich das Gesehene nicht ganz einordnen oder kategorisieren konnte, war ich überzeugt, dass es sich um ein bedeutendes Werk handelt. Wie das Sprichwort sagt, hatte Everson schon lange meine Neugierde – aber jetzt hatte er meine Aufmerksamkeit.
Ich nahm an der Diskussion nach der Filmvorführung teil, in der Hoffnung, mehr über den Prozess des Künstlers zu erfahren. Ich habe sogar ein paar unbedachte Fragen gestellt, nur um ihn zum Reden zu bringen. Everson kann ein verschlossener Gesprächspartner sein. Er sagt nicht immer das, was man hören will, z. B. wenn er erklärt, dass er seinem Publikum gegenüber feindselig eingestellt ist und sich überhaupt nicht darum kümmert, dass es sich sicher oder bedient fühlt. Seine Treue gilt nicht den Zuschauern, sondern den Figuren in seinen Filmen, den Konzepten, die er mit ihnen gemeinsam erforscht. Er geht sogar so weit zu sagen, dass seine Filme kein Publikum brauchen. Die öffentliche Diskussion bestätigte meinen Verdacht: Hier handelt es sich um einen Künstler, der es wert ist, beachtet zu werden, um jemanden, der seinen eigenen Weg geht und der etwas Dringendes über den Zustand der Kunst und ihren Platz in der Welt zu sagen hat. Everson ist vielleicht nicht der Künstlertyp, der einem gibt, was man will, aber er ist sicherlich der Typ, der einem gibt, was man braucht. Das heißt: Keiner seiner Filme ist beschönigend.
Nach der Diskussion im Anschluss an die Vorführung schlenderte ich zurück in das Kinofoyer, wo sich viele zwischen den Vorführungen auf dem Festival aufhalten. Ich sah Everson mit einem anderen Künstler und ein paar Kollegen in der Ecke stehen. Er nickte mir zu – ein verschlüsseltes Zeichen, das Schwarze Männer miteinander teilen und das sowohl als Eisbrecher als auch als Einladung zum Gespräch dient. Ich fühlte mich sicher, zu ihm zu kommen und mit ihm zu sprechen. Das erste, was er mit einem Lächeln sagte, war: „Was machst du hier und woher kommst du?“ Ich wusste, was er meinte, denn wir waren wahrscheinlich die einzigen beiden Schwarzen im ganzen Kino, wenn nicht sogar auf dem ganzen Festival. Außerdem war ich zum ersten Mal in Oberhausen, also sah ich wahrscheinlich aus wie jemand, der sich anpasst. Wir begannen dann eine Diskussion über alles außer Film, über alles außer Kunst. Und diese Diskussion hat sich bis heute fortgesetzt, während sie sich zu einer echten Kameradschaft entwickelt hat.
Kevin Jerome Everson ist der bedeutendste schwarze Filmkünstler der Welt. Er nähert sich dem Ende seines Schaffens und wenn man sich die letzten Schritte seiner Karriere ansieht, könnte er angesichts seines enormen Schaffens den Anspruch erheben, der größte Filmkünstler von allen zu sein, und zwar ohne jede Einschränkung. Das Werk spricht für sich selbst in seiner Breite, seinen Nuancen, seiner kühnen Experimentierfreudigkeit, seiner Gleichgültigkeit gegenüber den Regeln des guten Geschmacks, seinem Engagement für die Belange der Arbeiterklasse, seinem Respekt für die Konturen und die Politik der Arbeit, seiner entwaffnenden Gewöhnlichkeit, seiner gekonnten Multidisziplinarität, seiner Ehrfurcht vor dem Medium Film und der fotografischen Kunst, seiner tiefen Liebe zu schwarzen Menschen überall. Vivian Gordon vertrat die Ansicht, dass Sugarcoated Arsenic das Versprechen von Gleichheit und Integration war, das den Schwarzen gegeben wurde, um die inhärenten antischwarzen Grundlagen der US-Gesellschaft besser verdaulich zu machen. Ich denke, die Filme von Everson sind genau das Gegenteil: Sie können oft schwer zu verdauen sein, aber sie nähren immer die Seele.