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Nicole Streitler-Kastberger
Der Mann ohne Eigenschaften: Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn

Nicole Streitler-Kastberger

Foto: Johanna Kastberger

Die Ausstellung Future of Melancholia reflektiert vor dem Hintergrund der Melancholie, die sich in Städten wie Belgrad, Wien und Graz gewissermaßen nachspüren lässt, die Widersprüchlichkeit von Nostalgie bei gleichzeitiger Fortschrittsgläubigkeit und versucht jenes diffuse Stimmungsbild aufzugreifen, das zwischen Melancholie und Nostalgie um das Althergebrachte und dem Heroisch-Verträumten oszilliert.

Diese Gemengelage erinnert auch ein wenig an die Situation des frühen 20. Jahrhunderts, genauer genommen die 1920er- bis 1930er-Jahre und zugleich auch an ein berühmtes Kapitel aus Robert Musils epochalem Werk Der Mann ohne Eigenschaften (1930): Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben“ und dessen Protagonist Ulrich sich zu nichts Ernsthaftem bekennen mag und sich jeder Festlegung im eigenen Leben entzieht, um sich neue Optionen und Konstellationen offenzuhalten. In diesem Möglichkeitssinn, den Musil angesichts des Untergangs der K&K Monarchie und seines Kakaniens am Übergang zur Moderne auch als Parallelaktion zur Wirklichkeit beschrieben hat, steckt auch ein großer Hang zu einem melancholischen Weltbild, das zwischen Zweifel, Neid, Missgunst, Selbsthass und Ironie, aber auch Hingabe, Suggestion und Eifer schwankt, und in dessen genuiner Negativität auch reichlich produktive Kraft steckt.

Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930÷32) ist ein Kompendium der europäischen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts. Ein Roman, der alle Grenzen sprengt: jene des Erzählerischen, jene des Zeitgeschichtlichen und jene des Diskursiven. Als interdiskursiv“ hat man dieses Buch einmal bezeichnet, weil es viele Diskurse der Zeit in sich bündelt, Diskurse, die auch heute für uns noch relevant sind wie die Frage nach dem rechten Leben und jene nach der Zurechnungsfähigkeit. Welche Eigenschaften sollen wir anstreben und welche lieber nicht? Ulrichs Urlaub vom Leben“ korrespondiert mit heutigen Einrichtungen wie Karenzierung oder Sabbatical. Nischen des Zeitgemäßen, die manche lieber abschaffen würden. Oft brauchen wir aber Rückzug und Distanz, um unser Weltverhältnis, unser Sein in der Welt neu bestimmen zu können. Nicht zuletzt stellt der Roman die Frage nach dem Verhältnis von Aktion und Reflexion, also vita activa und vita contemplativa.

Begleitend zu dieser Veranstaltung trifft sich am 5. April um 15 Uhr der Panther Reading Lesezirkel und behandelt ein Kapitel aus Robert Musils epochalem Werk. Anmeldung und Literatur: Caro Feistritzer: cf@​halle-​fuer-​kunst.​at

Künstler:innen

Teilnehmende Künstler:innen

Nicole Streitler-Kastberger

* 1972 in Dornbirn, lebt in Graz und Wien

ist Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin und Autorin. 1990 – 1995 Studium in Wien, dann von 1997 – 2000 und 2003 auf zwei Wellness-Lektoraten“ in Nizza und Bari. Sie hat ihre Dissertation zu Musil als Kritiker (Bern 2006) verfasst und war zwanzig Jahre lang Mitarbeiterin der Wiener Ausgabe der Werke Ödön von Horváths (Berlin 2009 – 2024). Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin (Senior Scientist) am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Universität Graz.

Sandro Droschl

*1970 Graz, lebt in Graz

ist Gründungsdirektor und Kurator der Institution HALLE FÜR KUNST Steiermark. Von 2012 bis 2020 leitete er das Künstlerhaus, Halle für Kunst & Medien. Seit 2000 arbeitete er als Kurator, dann auch als Leiter für den Kunstverein Medienturm, Graz, daneben als Gastkurator an anderen Institutionen. Er kuratierte zahlreiche Ausstellungen zeitgenössischer Kunst und gab über 30 Publikationen heraus. Droschl machte ein Studium Irregulare, Körper. Medien. Kunst“, mit Kunst (Isabelle Graw, Freie Klasse), Philosophie, Publizistik und Medizin an der Universität für Angewandte Kunst Wien, Universität Wien und der London Guildhall University.

Nicole Streitler-Kastberger

Foto: Johanna Kastberger