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Sung Tieu

Das Werk von Sung Tieu setzt sich mit der Geschichtsschreibung auseinander und analysiert die transnationalen Bewegungen von Menschen und Objekten. Dabei spielt auch die Biografie der Künstlerin selbst immer wieder eine Rolle. Im Rahmen der Ausstellung zeigt Tieu zwei Arbeiten, die zum Teil noch nie gezeigt wurden, aber mit bestehenden Arbeiten zusammenhängen.

Das Video in der Ausstellung bezieht sich auf das frühere Projekt Formative Years on Dearth (2019), wofür Tieu im Archiv des britischen Konzeptkünstlers John Latham (1921 – 2006) recherchiert hat. Sie verbindet ihre eigene Biografie mit Lathams Biografie, indem sie Korrespondenzen, Dokumente, Fotografien und Zeitungsausschnitte unter anderem zu Deutschland, zur Fluxus-Bewegung und zum Transnationalismus ausstellte. Die fertige Installation bestand aus einem losen, phantasievollen Informationsextrakt, in dessen Kontext auch das Video entstanden ist. Es zeigt eine Satellitenaufnahme, die die Künstlerin aus der App Google Earth entnommen hat und mit einem langsamen Zoom im Stadtgebiet London startet. Im Zentrum des Bildes stehen zwei Sitzelemente, die als maßstabsgetreues Nachbild aus Stahl eine zentrale Rolle in der weiteren Folge des Projektes gespielt haben. Im direkten Umfeld dieses Platzes in Bethnal Green hat sich, schon bevor es im Juni 2017 zu dem verheerenden Großbrand im Grenfell Tower kam, eine ganz ähnliche Tragödie ereignet, die wie beim späteren Brand vor allem eine migrantische Community getroffen hat und durch vergleichbare bauliche Mängel verursacht wurde. In einem Leserbrief zu einem Artikel aus dem Jahr 1995, der Teil der Arbeit ist, reagiert eine Person mit Kürzel Ching wie folgt: Während der Artikel die geopolitischen Entscheidungen, die uns hierher gebracht haben, anständig wiedergibt, schildert er unser tägliches Leben in keiner Weise. In meinem kurzen Leben habe ich hauptsächlich das gesehen, was direkt vor mir liegt, und nicht die großen Machtkämpfe zwischen Erwachsenen in Büros in Washington, Hanoi, London und dem ehemaligen Ost-Berlin. […] In dem gesamten Artikel geht er nie auf unsere Gemeinschaft oder unser gemeinsames Schicksal ein. Wir haben ein wirkliches Leben. Ich zum Beispiel habe hier kürzlich meinen siebenten Geburtstag gefeiert, umgeben von Freunden und Familie.“ Man könnte sagen, dass die Arbeit von Tieu immer versucht die politischen oder geostrategischen Großereignisse und subjektiven Perspektiven miteinander zu verbinden, wobei auch der Fiktion eine gewisse Rolle dabei zukommt. So entwirft der Artikel ein Bild des Inneren eines Asylheims, das jedoch nicht mit dem gezeigten Ort im Video übereinstimmt. Die Beschreibung basiert auf einem echten Foto, das die Künstlerin und ihre Mutter in solch einer Unterkunft in Berlin-Hohenschönhausen zeigt, wo sie nach ihrer Ankunft in Deutschland 1992 wohnten.

Auch die zweite Arbeit weist sowohl einen Bezug zu London, wie auch zur Biografie der Künstlerin auf. In Top Wheel Sung Tieu Natal Chart, 12 Jul 1987, Sun 6:45am ICT Hai Duong, Vietnam, 20°56’N 106°20’E, Bottom Wheel ICA London Natal Chart, 9 Feb 1948, Mon 8:30pm GMT London, UK, 51°30’N 0°10’E, Placidus (2022) kombiniert die Künstlerin mehrere Elemente. Eine abstrahierte Tresortür, die mit einem Hebel zu öffnen ist, und zwei Zahlenschlösser hängen an der Wand des Ausstellungraums. Die beiden Zahlenschlösser sind zwei Geburtshoroskope. Während das obere jenes der Künstlerin darstellt, ist das untere das Gründungsdatum des ICA Institute of Contemporary Arts London. Das zwölfte Haus in der Astrologie, welches die meisten Planeten in Sung Tieus Geburtshoroskop umschließt, repräsentiert den Bereich des kollektiven Unbewussten. Mit ihrem Interesse an Sicherheitsarchitekuren wie Gefängnissen, militärischen Operationen, aber eben auch dem Bankenwesen könnten man annehmen, dass die Künstlerin gerade dieses Unbewusste auf Ängste oder ein Bedürfnis nach Schutz hin untersuchen will.


Top Wheel Sung Tieu Natal Chart, 12 Jul 1987, Sun 6:45am ICT Hai Duong, Vietnam,20°56’N 106°20’E, Bottom Wheel ICA London Natal Chart, 9 Feb 1948, Mon 8:30pm GMT London, UK, 51°30’N 0°10’E, Placidus, 2022
Rostfreier Stahl, gravierter rostfreier Stahl, Schrauben
38501 cm
Courtesy die Künstlerin; Galerie Barbara Weiss, Berlin

51°2829.1„N 0°0455.6„W, 2019
HD-Video, Ton 
01:56 Min.
Digitaler Druck, 38 × 62 cm
Edition von 5 + 1 AP (# 1/5)
Courtesy die Künstlerin; Emalin, London

Sung Tieu

*1987 Hai Duong, lebt in Berlin und London

Solo (u.a.): Mudam, Luxembourg (2022), Sfeir-Semler Gallery, Hamburg (2022, 2017), Kunstmuseum Bonn (2021), Stedelijk Museum Commission, Amsterdam (2021), Stiftung für Zeitgenössische Kunst Leipzig (2021), Emalin, London (2020), Nottingham Contemporary (2020), Haus der Kunst, München (2020), Fragile, Berlin (2019), The Yard & Flat Time House, London (2019), Nha San Collective, Hanoi (2017), FIAC Art Fair, Paris (2015); Shows (u.a.): Albertinum Dresden (2022), Astrup Fearnley Museum of Modern Art, Oslo (2022), Preis der Nationalgalerie, Hamburger Bahnhof, Berlin (2021), Kyiv Biennale, Kiew (2021), Taipei Fine Arts Museum (2021), 34. Bienal de São Paulo (2021), Kunsthalle Basel (2021), Layr, Wien (2021), Museum Angewandte Kunst, Frankfurt (2020), Kunsthaus Hamburg (2019), Royal Academy of Arts, London (2018), Kunstverein Nürnberg (2018)