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Ever/Repair — Intro

Wie wir uns selbst wahrnehmen, ist eng damit verwoben, wie wir den Umgang mit Anderen erleben. Selbstwahrnehmung erfolgt immer auch über eine Spiegelung des Gegenübers. Ever/​Repair ist das Zusammenspiel zweier Künstler:innen, die sich gefunden haben und gemeinsam ein Wagnis eingehen. Isabel Lewis und Dirk Bell haben beide über viele Jahre ein jeweils eigenständiges und unkonven­tionelles Werk geschaffen, das sie nun im Rahmen ihrer Beziehung und in dieser Ausstellung in der HALLE FÜR KUNST Steiermark miteinander verbinden.

Der Titel Ever/​Repair ist ein Sprachspiel, das über Assoziationen andere inhaltliche Ebenen öffnet. Es ist neben einer Übersetzung immer/​wiedergutmachen“ die lautmalerische Kombination der beiden Worte Every und Pair. Die Verschränkung der Wortpaare steht sinnbildlich für die beiden Individuen, die nun wie in einem Tanz verstrickt sind.

Die Ausstellung in der HALLE FÜR KUNST Steiermark geht auf eine Performance von Lewis aus dem Jahr 2022 zurück. In Kooperation mit Bell entwickelte Lewis das Raumkonzept und seither kollaborieren sie immer wieder zu unterschiedlichen Anlässen. In ihrer Praxis geht es dem Künstler:innenpaar vordergründig um die Schaffung von Räumen, in denen Körpererfahrungen möglich sind, Sinne angesprochen und ein Austausch zwischen Individuen ermöglicht wird. Daher sprechen sie bei den für die Ausstellung produzierten Werken auch von Hosting (dt. Gastgeben), von gehosteten Situationen oder Anlässen. Hosting soll hier insbesondere hinsichtlich des englischen Begriffs von Care, also den Praktiken und Politiken einer einfühlsamen, aber nicht moralisierenden Fürsorge gefasst werden. Ihr Werk ist dabei stets situativ und kann zu jedem Zeitpunkt erweitert und an Spezifika angepasst werden, spielt zugleich aber auch immer mit dem europäischen Verständnis des Theaters, wie es seit der Zeit des Barocks vorherrschend ist.

Ausgehend von der Ornamentik barocker Theaterbühnen und ihren fantasievollen Szenografien haben Bell und Lewis eine Reihe bemalter, beweglicher Leinwände entwickelt. Das Bühnenbild“ in der HALLE FÜR KUNST besteht aus variabel gestaltbaren Metallrahmen, die sich beliebig erweitern und anpassen lassen. Drapiert mit Stoffen, die mit ab­strakten Formen teilweise gestisch grobe Malereien aufweisen, bilden sie als (semi-)transparente Raumtrenner das Setting. Wie aus dem Nichts tauchen in den Stoffmalereien figurative Elemente von Vögeln oder menschlichen Körpern auf.

In Lewis und Bells Recherche der ästhetischen Techniken des Barocks erkunden sie deren subversive Potenziale und Grenzen und begeben sich zu den Ursprüngen des europäischen Theaters und so zu einer Zeit, in der sich Ideen von Repräsentation gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung, wie etwa die Darstellung der Machtverhältnisse innerhalb eines Hofstaates, herausbildeten. Zugleich entstanden in jener Zeit mit Hilfe perspektivisch-angewandter Malerei Kulissen, die den eckigen Bühnenraum durch illusionistische Praktiken in einen mythenumwobenen Ort verwandelten. Lewis und Bell dekonstruieren diese traditionelle Reliefperspektive durch die Verschiebung der Kulissen derart, dass sie gleichzeitig mit der einhergehenden Imaginationsmaschinerie brechen. Verstärkt wird diese Aufhebung eines klassischen Bühnenbilds auch durch die in der Ausstellung über mehrere Stunden an zwei Tagen stattfindende Performance mit vier Tänzer:innen, in der die Grenzen zwischen Publikum und Performer:innen verschwimmen.

Die Ausstellung wird begleitet von Klängen, die sich aus Fragmenten von Bells Audiostücken und literarischen Texten, die Lewis ausgewählt hat, zusammensetzen und in Interaktion mit der Performance sowie dem Publikum zu einer Klanglandschaft avancieren. Bei dem für die Soundlandschaft relevanten und adaptierten Haupttext handelt es sich um eine Szene aus dem von der jamaikanischen Philosophin und Schriftstellerin Sylvia Wynter entwickelten Stück Maskarade (1970). Wynter ist eine wichtige Stimme der Post-Colonial Studies in Mittelamerika, die unter anderem in Stanford lehrte und daran interessiert ist, durch den Kolonialismus ausradiertes, aber auch entstandenes Wissen und Bräuche zu untersuchen. Für Maskarade setzte sie sich mit der jamaikanischen Aufführungstradition des Junkanoo auseinander – ein Fest, das während der Zeit der Versklavung der afrikanischen Bevölkerung und deren Verschiffung in die europäischen Kolonien Amerikas entstanden ist und vor allem in Jamaika, auf den Bahamas und in Belize gefeiert wird. Jene Festlichkeit greift die vielen Einflüsse und Widersprüche innerhalb der Gesellschaft des gegenwärtigen Jamaikas auf, in der sich sowohl indigene Brauchtümer, überlieferte Traditionen von ehemals Versklavten und die Christianisierung der Kolonialherren manifestieren. Für Bell und Lewis sagt der Brauch des Junkanoo viel darüber aus, wie Identität sich konstituiert. Durch die Verbindung ursprünglicher Traditionen des Theaters, des Tanzes und der Kostümierung sei das Konzept des Karnevals geradezu prädestiniert dafür, Strukturen offenzulegen und sichtbar zu machen.

Durch diese Untersuchung und den Bezug auf Wynter erhält die im Titel referierte Idee von Repair auch einen Aspekt von Reparation. Basierend auf der Annahme, dass diese Wiedergutmachung nicht nur über Vision und den Blick, sondern haptisch und über eine Vielzahl von Sinnen erfahrbar und auf grundlegende Weise mit der Sensorik verbunden ist, entsteht über das ganz unmittelbare Erleben von Klang und Bild in der HALLE FÜR KUNST Steiermark ein zugleich mit dem Barocken liebäugelndes performatives, multisensorisch erfahrbares Format.

Die in Tanz, Literaturkritik und Philosophie ausgebildete dominikanisch-amerikanische Choreografin und Künstlerin Isabel Lewis arbeitet immer in Hinblick auf die spürbare Empfindung. Für Lewis liegt ein radikales Potenzial darin, sich Zeit zu nehmen, körperliche Erfahrungen und Wissen auszutauschen und sich intensiv mit sich selbst, anderen und der (gebauten) Umwelt auseinanderzusetzen. Ihre Arbeiten entfalten eine Dramaturgie, die auf die sich entwickelnde Live-Situation eingeht und als das Publikum integrierende Formate des zeitgenössischen Geschichtenerzählens betrachtet werden kann.

Der Künstler Dirk Bell schafft eindrückliche Arbeiten hoher handwerklicher und oftmals suggestiv-phantastischer Qualität, die so unterschiedliche Elemente wie Zeichnung, Objekt und Installation zusammenführen. Schließlich entstehen daraus immer Ausstellungssituationen, die an Aufführungen und ihre Performativität erinnern.

Das Projekt in der HALLE FÜR KUNST Steiermark lässt sich als eine Vertiefung der mehrjährigen Performancereihe Give Rise To… verstehen und versucht Fragen nach der Archivierung von Performance(s) ganz aktiv und konkret zu bearbeiten. Die Ausstellung stellt einen Versuch dar, die Arbeit von Isabel Lewis und Dirk Bell längerfristig erlebbar zu machen und ihr so ein anderes und lebendiges Format zu geben.