Ira Goryainova
„Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und sprach mit der Brandung Blabla. Im Rücken die Ruinen von Europa.“ Nach den ikonischen Anfangssätzen der Videoarbeit, die aus Heiner Müllers Theaterstück Die Hamletmaschine (1977) stammen, ein harter Schnitt. Was folgt sind Aufnahmen einer offiziellen Gedenkfeier zum Ersten Weltkrieg, die von Repräsentant_innen der Politik durchgeführt wird. Hier wird offensichtlich jemand oder etwas zu Grabe getragen, während gleichzeitig eine Stimme im Hintergrund eine dramatische Lektüre von Müllers Stück vornimmt. Die Stimme durchkreuzt die angestrebte Würde und die politische Repräsentativität des Zeremoniellen, indem sie Sätze einspricht, die Gewalt und Zerstörung verherrlichen, da eine Anzahl dieser Politiker Handel mit Waffen in verschiedene Kriegsgebiete unterhielten.
Ein Leitmotiv zieht sich durch den ganzen Film The Ruins of Europe (2017) von Ira Goryainova (*1984 Moskau, lebt in Brüssel): politischer Frieden sowie staatliche Ordnung werden durch dystopische Bilder torpediert, die Fundamente der Demokratie scheinen einzustürzen. Es folgt ein Blitzgewitter aus Medienbildern, die einen kriegsähnlichen Zustand innerhalb der Gesellschaft suggerieren. Es brennt in den Straßen, es kommt zu Ausschreitungen und Terror, Polizisten werden attackiert oder üben Gewalt gegen Unschuldige aus, militärische Aufmärsche sind zu sehen und Parolen rechter Ideologien zu hören. Dafür hat Goryainova Aufnahmen aus den Medien verwendet und diese zu einer düsteren Untergangsvision verdichtet.
Dem gefundenen Filmmaterial setzt die Künstlerin eigene Aufnahmen entgegen, in deren Mittelpunkt eine weibliche Protagonistin steht, für die sie auf die Figur der Ophelia aus der Hamletmaschine sowie auf die der Elektra aus der griechischen Mythologie zurückgreift. Beide Frauenfiguren verhalten sich widerständig gegenüber dem, was ihnen durch teilweise patriarchale Machtstrukturen aufgetragen wurde und zeichnen sich durch Elemente des Aufbegehrens aus.
Ira Goryainova verstrickt uns geschickt in dokumentarisch angelegte wie auch fiktive Narrative, welche die politische Realität Europas widerspiegeln und uns ein unwirkliches Gefühl davon geben, wie die Lage im Moment zu beurteilen ist und was vielleicht noch kommen wird.
Ira Goryainova
ist eine in Russland geborene Filmemacherin, die derzeit in Brüssel lebt, wo sie als Doktorandin am Royal Institute for Theatre, Cinema & Sound RITCS und der Vrije Universiteit Brussel ihren PhD schreibt. Die Künstlerin arbeitet mit gefundenem Filmmaterial aus dem Fernsehen, dem Internet sowie mit Archivmaterial, und entwirft poetische und zugleich kritische Arbeiten, in denen sie die Menschheit hinterfragt und ihre Verletzlichkeit zeigt.
Goryainova hat an verschiedenen internationalen Filmfestivals teilgenommen, wie am RIDM Rencontres Internationales du Documentaire de Montréal, Montréal; Imagine Science Film Festival, New York; Thessaloniki Documentary Film Festival, Thessaloniki; und IDFA International Documentary Film Festival, Amsterdam, u.a.