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Coney Island

Jim Shaw, Labyrinth: I Dreamt I was Taller than Jonathan Borofsky, 2009

Installation mit Acryl auf Leinwand, auf Sperrholz aufgespannt

Foto: Mick Vincenz, 2022 © Kunst-und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

Auf Coney Island in New York wurde 1903 der Luna Park eröffnet – und zur Blaupause für viele Vergnügungsparks weltweit, mit ihren Kristallpalästen, Spukhäusern und überladenen, bunten Welten. Der Bühnenbildner Adrien Rovero hat sich eine Umgebung ausgedacht, die wie überdimensionale Zuckerstangen gestreift ist.Wie in einem Vergnügungspark können hier die Dinge zu groß oder zu klein sein, was einen zirkusähnlichen Empfang für die Show schafft.


Hierfür finden sich zahlreiche Beispiele in der Haupthalle der HALLE FÜR KUNST Steiermark. Als erstes fällt die großformatige Arbeit von Jim Shaw Labyrinth: I Dreamt I was Taller than Jonathan Borofsky von 2009 ins Auge. Shaw studierte bei Jonathan Borofsky, der in den 1980er- und 90er-Jahren einer der erfolgreichsten Bildhauer insbesondere für gigantische Skulpturen im Außenraum wurde – worauf der Titel ironisch anspielt, und zugleich ebenfalls auf die Tatsache, dass Shaw immer wieder Motive aus seinen eigenen Träumen, in Skizzenbüchern festgehalten, als Kunstwerke realisiert. Verschiedene mehrere Meter lange und hohe Aufsteller mit aufgezogenen Leinwänden, die an Bühnenkulissen erinnern, entfalten eine Art Wimmelbild im Ausstellungsraum. Ein übergroßer Staubsauger, welcher sich selbst bedient und eine Menschengruppe aufsaugt, als ob es sich um Ameisen handeln würde, ein Kopfportrait von Richard Nixon, eine Varieté-Tänzerin mit der Maske eines Mannes mit roter Nase, die irgendwo zwischen Trinker und Clown changiert – Zitat einer Borofsky-Skulptur –, ein Sack mit appliziertem Dollarzeichen sowie eine Figur mit Löchern, die ebenfalls dem Stil der monumentalen Skulpturen von Borofsky ähnelt, sind neben antiken Säulen und mittelalterlichen Ruinen einige der Figuren, die die Arbeit bevölkern. Vieles passiert hier gleichzeitig, ähnlich wie auf dem Jahrmarkt, dem das Kapitel seinen Titel verdankt. Im Kontrast erscheint John Millers Arbeit The Thirsty Duck (1993) vor der großen Arbeit geradezu miniaturhaft.


Zwischen beiden befindet sich Family on the Beach (2015) von Isa Genzken. (Der Familienausflug an den Strand führt New Yorker übrigens nicht selten nach Coney Island.) In den 2010er-Jahren hat die Bildhauerin Genzken an der Werkgruppe der Schauspieler*innen“ gearbeitet, die in ihrem Berliner Atelier aus Schaufensterpuppen und aus Kleidungsstücken und Accessoires, die sie ihnen zueignete, entstanden. Sie sind behängt, verhängt, zusammengezurrt, vervollständigt, gebrochen, veräppelt, verschönert, zu flackerndem Leben erweckt. Es entstanden Konstellationen, die all jenen ein Dorn im Auge sein müssen, denen das Schrille und Ausgelassene per se als Verrat an der Form gilt. Bei der Familie am Strand“ sind insgesamt 7 Schaufensterpuppen (zwei Erwachsene und fünf Kinder) mit spärlicher Bekleidung, Bemalungen, die teils an Flecken von Sonnencreme erinnern, sowie verschiedene Spielzeuge wie Bälle oder Frisbees zu einer Gruppe zusammengefasst. Genzken macht aus den Puppen parodistische Avatare dramatischer, symbolisch aufgeladener (Familien-)Konstellationen, zwischen hochtrabenden Vereinnahmungen und niederträchtigen Seitenhieben. Es ist die absurde Zuspitzung der freudschen Urszene und zugleich Familienaufstellung der konkurrierenden Gefühle von Scham, Abwehr, Aufbegehren.


Pauline Curnier Jardin zeigt in ihrer Installation Grotta Profunda Approfundita (2017) in einem abgetrennten Seitenraum, welchen die Besucher*innen durch eine vier Meter hohe Handskulptur betreten, einen Film, der die Geschichte von Bernadette, einer Seherin aus den Pyrenäen, erzählt. Durch eine tief religiöse Erfahrung angetrieben, steigt sie hinab in eine Höhle und begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit über die Ursprünge der Menschheit. Die Geschichte ist an die Sankt Bernadette von Lourdes angelehnt, die durch die Einflüsterung der Jungfrau Maria in einer prähistorischen Höhle an der französisch-spanischen Grenze eine bis heute bekannte religiöse Erfahrung erlebte. Im Film wird die Jungfrau Maria stimmlich durch die Künstlerin dargestellt und visuell von einem Huhn repräsentiert. Nach dem Beginn des Abstiegs zum Kern von allem“ wechselt auch das Bild von schwarz-weiß zu Farbe und es stellen sich mehr und mehr merkwürdige Begegnungen ein. Mit einer Mischung aus Blut, dem Grotesken und starken Kontrasten überführt die Künstlerin Referenzen aus B‑Movies, Pornografie, religiösen Bräuchen oder Erzählungen und Trash in eigene Bildwelten. Jenseits dieser Mythologie spielt die Künstlerin oft mit den Halbwelten des Zirkus, Karnevals oder Theaters und Elemente wie abstrahierte Zirkuszelte oder Bühnensituationen tauchen sowohl in ihren Installationen als auch den großangelegten Filmarbeiten auf.


Martin Kippenbergers Arbeit besteht aus verschiedenen Komponenten. Auf eine grüne Tür und die dahinterliegende Wand ist das überlebensgroße Konterfei des Stummfilmstars Charlie Chaplin gemalt. Außerdem sind auf der Tür und der Wand eine Reihe von schwarz-weiß Fotografien angebracht, die ein weiteres Projekt des Künstlers zeigen und von der Fotografin Ursula Böckler auf einer gemeinsamen Brasilienreise aufgenommen wurden. Die TMB – Tankstelle Martin Bormann“ spielt mit der Vorstellung, dass sich der hochrangige Nazi nach dem Krieg nach Südamerika absetzte und dort unter bürgerlichem Namen eine zweite Existenz als Tankstellenbesitzer aufbaute – all das zugleich eine Anleihe bei Russ Meyers absurd-frivolem Sexploitation-Film Supervixen (1976), in dem ebenfalls im Stil von Mel Brooks eine Tankstelle namens Martin Bormann’s Super Service“ vorkommt; Nazis haben es schon immer verdient, gnadenlos ins Lächerliche gezogen zu werden. Chaplin, der in seiner Rolle als Diktator Hynkel schon während des Krieges ähnliche Witze über das NS-Régime machte, ist hier sicher ebenfalls eine Art künstlerisches Vorbild für Kippenbergers Haltung oder zumindest eine Referenz, die als Schlüssel für das Werk in der Fotodokumentation herangezogen werden kann. Die Hochphase des Stummfilms und die Entstehung von Freizeitparks wie Coney Island fallen in eine ähnliche Zeit, weswegen die Arbeit für die Grazer Fassung der Ausstellung eine sehr passende Ergänzung darstellt. Gleichzeitig ist der Slapstick auch eine Denkfigur, die in der Auseinandersetzung mit dem Readymade und dem Dadaismus eine große Rolle spielte. Deswegen ist die Arbeit auch eine gute Überleitung in den Raum, der die DADA-Sektion beinhaltet.