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Intro

Der österreichisch-amerikanische Psychologe Ernest Dichter verfasste 1960 die Publikation The Strategy of Desire, in der er seine wichtigsten Ideen zur Entwicklung der Markt- und Motivforschung niederlegte. Auf Basis der Freud’schen Psychoanalyse entwickelte Dichter Methoden, die er auch als ​„Kunst der Einflussnahme” bezeichnete um das Verlangen nach neuen Waren stetig zu steigern. Im Zentrum seines Denkens liegt die Annahme, dass der Mensch Entscheidungen auf Basis von Emotionen und nicht auf Grund von rationalen Überlegungen trifft.

Die großangelegte Gruppenausstellung Domestic Drama stellt einen Versuch dar, diesen von Dichter beschriebenen ​„Seelen“, die vermeintlich in unseren Alltagsgegenständen schlummern, nachzuspüren und sie heraufzubeschwören. Als Schauplatz dieser Suche dient ein Ort, der in hohem Maß durch Emotionen geprägt ist: das ​„Zuhause”. An kaum einem anderen Schauplatz als in den eigenen vier Wänden offenbaren sich sonst oft nicht immer unmittelbar fassbare aber wesentliche Kategorien wie unsere soziale, ökonomische, ethnische und geschlechtliche Zugehörigkeit. Wohnen an und für sich kann unmittelbar über gesellschaftliche Zugehörigkeit und Teilhabe bestimmen, nämlich genau dann, wenn jenes Grundbedürfnis nicht erfüllbar oder prekär ist.

In unserer unmittelbaren Gegenwart, die durch die anhaltende Corona-Pandemie geprägt ist hat sich dieser Umstand deutlicher denn je gezeigt: Das ​„Zuhause” wandelte sich vom Rückzugsort zur permanenten Produktionsstätte, in der unter anderem die Grenzen zwischen Privatem und der Arbeitswelt verschwinden und daraus resultierende Konflikte, die vormals im Außen stattfanden, im Inneren der Privatsphäre ausgetragen werden.

Domestic Drama stellt einen Versuch dar Alltagsobjekte nicht als Werkzeuge und Objekte des Gebrauchs zu verstehen, sondern als Repräsentanten von eben diesen Konflikten, aber auch Wünschen und Verlangen, die unsere Identitäten prägen. Entgegen einer rein didaktisch-analytischen Annäherung an das Thema möchte die Ausstellung unmittelbar durch unterschiedliche ästhetische und konzeptionelle Strategien einen physischen wie psychologischen Raum schaffen, in dem die oben beschriebenen Prozesse und Mechanismen erfahrbar gemacht werden.

Neben den Konzepten von Ernest Dichter spielen auch die Theorien der renommierten Architekturtheoretikerin Beatriz Colomina eine wichtige Rolle. In ihrem Essay The Split Wall: Domestic Voyeurism (1992) prägt Colomina den Ausdruck ​„Domestic Drama“, der titelgebend für die Ausstellung ist. Sie widmet sich hierbei architektonischen Konzepten des Wohnraums, die in ihrer Gestaltung bühnenähnliche Situationen entstehen und gleichermaßen die sich darin befindenden Subjekte wie Objekte zu Protagonist_​innen eines ​„häuslichen Dramas” werden lassen.

So erhalten die Architektur und die Ausstellungsräume der HALLE FÜR KUNST Steiermark ein theatralisches ​„Makeover”: Der portugiesische Künstler Bruno Zhu entwickelt eine ortsspezifische Ausstellungsarchitektur im Dialog mit den ausgestellten Werken. Ausgehend von seinem technischen Wissen im Bereich der Mode und des Raumdesigns stellt Zhu Objekte her, die gleichzeitig die Spannung zwischen dem ​„Gewöhnlichen“ und dem kulturell Fremden verkörpern. Seine hybridisierten Objekte stehen in einem ständigen Spannungsverhältnis zu ihrer Umgebung und setzen sich mit den Mechanismen symbolischer Repräsentation auseinander.

Neben diesem raumgreifenden Beitrag zeigen die Künstler_​innen Olu Ogunnaike, Camille Blatrix und das Künstler_innen-Duo Nigel Gavus & İlkin Beste Çırak ebenfalls für die Ausstellung in Auftrag gegebene Neuproduktionen. Die Praxis des Künstlers Olu Ogunnaike umfasst das Produzieren von Skulpturen, Objekten, Drucken, Installationen und Performances. Ausgangspunkt für seine Arbeiten ist das Material Holz, das den Kern seiner künstlerischen Sprache bildet, die eine Reflexion über oft schwer fassbare Themen wie Herkunft, Identität, Arbeit als auch die globale Zirkulation von Menschen und Waren erlaubt. In Domestic Drama zeigt der Künstler einen Esstisch, der in Kollaboration mit einer Grazer Tischlerei aus mehreren heimischen Baumsorten hergestellt wurde. Als Einlegearbeit trägt die Oberfläche des Tisches ein besonderes Stück Holz, das das Bild eines Esstisches trägt, der keine besonderen Merkmale aufweist und überall auf der Welt vorgefunden werden könnte.

Der französische Künstler Camille Blatrix schafft maschinell anmutende, elegante Objekte in Kombination von industriellen und handgefertigten Elementen. Für die Ausstellung entwickelt er ein bewegliches, transparentes Objekt, das zwischen Schubladenmöbel und Stuhl angesiedelt ist. Dieses funktionale Möbel bietet dem Personal der Institution die Möglichkeit tagtäglich persönliche Gegenstände darin zu verwahren. Durch den Einbezug der Beschäftigten, die täglich in den Räumen der Institution ihrer Arbeit nachgehen, rückt der Künstler die HALLE FÜR KUNST Steiermark abseits ihrer öffentlichen Funktion auch als Arbeitsplatz mit emotionaler Bedeutung in den Vordergrund.

Das Künstler_innen-Duo Nigel Gavus & İlkin Beste Çırak wurde im Rahmen der Panther Residency, einem von der HALLE FÜR KUNST Steiermark initiiertem Förderprogramm für Künstler_​innen aus der Region, für eine Beteiligung eingeladen. Für Domestic Drama produzierten die Künstler_​innen die Arbeit It’s on a day like this… (2021), ein digitialisierter 16mm-Film, der das Portrait einer junger Frau zeigt. Diese verbringt ihre Tage damit sich durch Schlaf von der Realität zu befreien. Sie erschafft sich ihr eigenes Reich der Unwirklichkeit aus der Beschäftigung mit den sie umgebenden Dingen und Objekten. Der essayistische Film thematisiert das Gefühl von innerer Isolation und hält das Bild einer traurigen, einsamen und passiven Rebellion gegen die Aussichtslosigkeit ihrer Welt fest. 

Domestic Drama möchte durch den bewusst ​„theatralen Auftritt“ der künstlerischen Arbeiten und die gattungsüberschreitende Art der Inszenierung des Wohnraums eine körperliche Teilhabe beim Publikum herausfordern. Im weiteren Schritt erkennt die Ausstellung Emotionalität als einen wichtigen Faktor für unser Handeln an, das längst nicht mehr autonom von uns selbst sondern auch durch die uns umgebenden Objekte und Prozesse gesteuert wird. Die poetische aber dennoch subversiv-kritische Narration, die in Domestic Drama gesponnen wird, versucht so die Vielschichtigkeit der Fragen, Probleme und Mechanismen, die in unserem Alltag im ​„Zuhause” auftauchen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. 


Kuratiert von Cathrin Mayer

Domestic Drama, Ausstellungsansicht

Nicola L., Red Lip Lamp, 1969, Courtesy Alison Jacques, London; Bruno Zhu, Uh-Oh, Sismógrafo, Porto